Ich gehe entlang einer viel befahrenen Straße Richtung Innenstadt. „Was für eine hässliche Stadt“ denke ich so bei mir. Ich bin genervt von den Autos, die an mir vorbeirauschen und auf die ich gezwungenermaßen achtgeben muss; Ich bin genervt von dem asphaltierten Untergrund, auf dem sich in der Feuchte des letzten Regenschauers das Licht der Straßenlaternen spiegelt; Ich bin hauptsächlich genervt von mir selbst und meinem Leben. Seit fünf Monaten befinden wir uns auf dieser Reise quer durch Europa. Mit vier kleinen Kindern und meinem Mann bin ich seit fünf Monaten unterwegs und wir leben in einem Wohnwagen, um die Welt bzw. Europa zu erkunden und uns von den Strapazen der letzten Jahre zu erholen. Wir sind dem Bauernhof, den wir bis zum Sommer in Deutschland bewirtschaftet haben, entflohen. Wir sind frei und ungebunden. Wir haben alles hinter und gelassen, unser Haus ausgeräumt, den größten Teil unserer Sachen verschenkt, verkauft und weggeschmissen und sind in ein 12 Quadratmeter großes Zuhause auf Rädern gezogen, in der Hoffnung das Glück und die Leichtigkeit zu finden…

Wenn Träume wahr werden, oder auch nicht

… Leider haben wir zwar den Ort gewechselt und es hat sich auch einiges gebessert, aber nicht alles. Wir sind auch unterwegs immer noch wir und wir haben immer noch diese vier Kinder, die wir von Herzen lieben und zu gleich regelmäßig zum Mars wünschen. Wir sind immer noch wir und diese Reise war nicht im Ansatz das, wofür wir sie gehalten haben. In unserer Vorstellung dachten wir immer, sobald wir unterwegs wären, wäre alles großartig; sobald wir unterwegs wären, würden wir uns viel besser verstehen; wir würden so viel Zeit für die Kinder und uns gegenseitig haben und jeder von uns würde natürlich nebenbei noch seinen Hobbys und Interessen frönen können. Und die Leichtigkeit, die wir in unserer Kindheit und Jugend gefühlt haben, wiederfinden. Nichts von alledem ist eingetroffen. Ich habe die letzten drei Wochen 24 Stunden am Tag mit den Kindern verbracht. Ich werde morgens davon geweckt, dass der Vierjährige auf mich springt, um mich zu wecken und schlafe abends ein, während ich den Jüngsten ins Bett bringe. Dazwischen habe ich gekocht und gefüttert, Streit geschlichtet, aufgeräumt, mich um die Wäsche gekümmert, mit der Ältesten ihre Schulaufgaben erledigt, war spazieren oder im Schwimmbad, damit wieder ein paar von uns sauber und geduscht sind, war einkaufen und habe Lukas den Rücken fei gehalten, damit er zumindest ein paar Stunden für seine Projekte und seine zukünftige Karriere hat.

Die erste Me-Time seit drei Wochen

Über all diese Dinge denke ich nach, während ich diese furchtbare Straße in dieser fremden Stadt entlang gehe und dank Lukas das erste Mal seit drei Wochen ein paar Minuten ohne Kinder verbringe. Dort drüben geht endlich eine kleine Brücke über den kleinen Fluss. Als ich mich ihr nähere sehe ich, dass es eine reine Fußgängerbrücke ist. Ich werde also endlich die blöden Autos los. Unter der Brücke tost der vom geschmolzenen Schnee gefüllte Bach und beim Blick von der Brücke auf die beleuchteten Häuser am anderen Ufer schießen mir die Tränen in die Augen ob der Schönheit dieses Anblicks. Ich bleibe einen kleinen Moment lang stehen, bevor ich weiter gehe und auf der anderen Seite von einem völlig anderen Blick in derselben Stadt empfangen werde. Auf der anderen Seite weicht der hässliche Asphalt einem rot-grauen, einladenden Kopfsteinpflaster und die dunklen Häuser weichen barocken Stadthäusern mit gelbem und weißem Anstrich. Zwischen den Häusern sind über die Gassen Lichterketten mit großen Sternen in der Mitte gespannt. Die gesamte Innenstadt ist beleuchtet und voller Leben. Mir kommen lachende Menschengruppen entgegen und an den Tischen der Restaurants und Bars sitzen Pärchen und Familien. 

Ich ziehe weiter meine Runden durch die Stadt ohne Ziel oder Anliegen. Aber meine Stimmung ist anders als zuvor an der großen Straße. Ich sehe in die Geschäfte und sehne mich danach dort hineinzugehen und mir das einladende Sortiment anzusehen und für mich oder die Kinder etwas Schönes auszusuchen. Aber neben der Tatsache, dass wir im Wohnwagen keinen Platz für Konsumgüter haben, haben wir jetzt gerade vor Weihnachten auch nicht mehr viel Geld übrig. Deshalb kann ich mir auch keine Pizza oder keinen Salat in einem der netten Restaurants leisten. Allein spazieren zu gehen und mir etwas mehr Zeit zu nehmen, bevor ich in den Supermarkt gehe und für uns die notwendigen Lebensmittel für die nächsten Tage besorge, sind der größte Luxus, der gerade im Budget liegt. 

Unerwartete bekannte Klänge

Die lange Gasse, die ich entlang gehe, öffnet sich zu einem kleinen Platz auf einer Kreuzung, als mir aus der Richtung, in die ich gehe, die Carmina Burana von Carl Orff entgegenschallt. Als ich nach rechts in die Gasse blicke, sehe ich einen großen Palast, der von lila Licht beleuchtet wird. Ich wende mich kurz nach links und denke, dass mir meine Augen einen Streich spielen. Da läuft der Nikolaus in voller Montur die Straße hinunter. Begleitet von zwei kleinen Engeln. Wegen dieses Anblicks entscheide ich mich doch weiter geradeaus zu laufen. Auf die laute Musik zu, die inzwischen von Carl Orff zu Rammstein „Mein Herz brennt“ gewechselt ist. Die Musik wird regelmäßig von dem Aufheulen eines Motors unterbrochen und undefinierbarem Knallen, dass von den Häuserreihen links und rechts der Gassen hin und hergeworfen wird. Am Ende der Gasse, die ich nun entlang gehe, bildet sich eine große Menschentraube. Eine Gruppe junger Menschen kommt mir lachend entgegen. Zwei von ihnen sind im Gesicht schwarz angemalt. Ich betrete einen Buchladen auf der Suche nach einem Buch von Helene Flöss, die hier in dieser Stadt gelebt hat. Ich hoffe in ihrem Buch das Gefühl des Lebens in dieser Stadt zu finden. Wie fühlt sich jemand, der hier gelebt hat; hier am besten noch groß geworden ist. Noch mehr habe ich die leise Hoffnung zu erfahren, wie das Leben sich hier angefühlt hat vor der Zeit, derer ich so müde geworden bin. Als diese wunderschöne Innenstadt noch nicht umschlossen war von den Flüssen von Autos auf Asphalt, die nun an beiden Seiten an ihr vorbeiströmen.

Ein Gefühl von Ausgeschlossensein

Ich werde nicht fündig, fühle mich allerdings auch nicht in der Lage und Stimmung nachzufragen und kaufe aus einem Pflichtbewusstsein heraus zwei andere Bücher aus dem Belestrik Regal. Die Verkäuferin kassiert mich ab und da hinter mir kein anderer Kunde wartet frage ich sie, ob sie mir sagen kann, was da draußen los ist. „Krampuslauf“. Ist die knappe und nicht zu weiteren Nachfragen einladende Antwort. Ich nehme meinen Einkauf und verlasse das Geschäft. Die Menschenmenge hat sich in der kurzen Zeit verdoppelt. Die Menschen scheinen ausgelassen und fröhlich und stehen in Gruppen vor einer Absperrung, die verhindert, dass jemand auf die Straße tritt. Kurz überlege ich, ob ich mich dazu stellen soll und mir das Spektakel ansehen sollte. Ich entscheide mich dagegen. Ich habe das Gefühl hier nicht dazu zu gehören. Sowohl weil ich nicht hierher in diese Stadt gehöre und niemanden kenne und allein als Einzelgänger neben Menschen stehen würde, die sich hier mit ihren Freunden und der Familie getroffen haben, aber auch weil meine Stimmung immer noch nicht gut ist. Ich würde mich lieber in eine dunkle Höhle im Wald verkriechen und einfach keiner Menschenseele begegnen, als mich in eine Ansammlung feiernder Menschen zu stellen. Außerdem würde ich mich beim Bleiben in die Gefahr begeben, dass irgendeiner der Krampusse auf die Idee kommt mein Gesicht schwarz anzumalen. Das könnte ich jetzt nicht gebrauchen, dass mir ein fremder Mensch ins Gesicht fast.

Begegnung am Wegesrand

Ich gehe also mit schnellen Schritten den Weg, den ich gekommen bin, zurück, bin aber noch nicht bereit wieder nach Hause in den Wohnwagen zu gehen. Ich wende mich an der Kreuzung nun nach rechts. Der Nikolaus und seine beiden Engel sind zu meiner Erleichterung nirgendwo zu sehen. Ich hoffe diesen Weg ein Stück weit gehen zu können und dann von dort aus wieder auf die Straße zu kommen, die mich zurück zum Supermarkt und dann nach Hause bringt. Die Straße geht zweihundert Meter in die von mir gewünschte Richtung, bevor sie vor einem riesengroßen Palais mit Parkanlage davor eine Kurve nach rechts beschreibt und damit direkt auf die Straße des Krampuslaufs zu geht. Ich drehe also wieder um und entkomme den Krampussen und laufe genau auf den Nikolaus und die Engel zu, die ein Haus auf der linken Straßenseite verlassen und mir zunicken, bevor sie sich den Kindern widmen, die dort schon stehen und warten. Auf den Gesichtern, dieser Kinder breitet sich sofort ein breites Lächeln aus und ich bekomme noch mit, wie der Nikolaus die Kinder begrüßt und ihnen sagt, sie sollen sich vor den Krampussen in Acht nehmen. Ich hatte es fast vergessen, aber morgen ist Nikolaustag. Der 6. Dezember 2023. 

Gefangen im Reisealltag

Kurz habe ich ein schlechtes Gewissen, dass ich meine Kinder nicht mit in die Stadt genommen habe. Wir sind so in unserem neuen Familienalltag gefangen, dass ich (und ich glaube Lukas geht es genauso) ganz vergessen habe, warum ich diese Reise hier unbedingt machen wollte. Um mehr von der Welt und fremden Orten und Leben mitzubekommen und um den Kindern die Welt zu zeigen und ihre Kindheit nicht zu verpassen. Und trotzdem ist meine schönste Zeit unterwegs die, die ich ohne die Kinder und Lukas verbringen kann. Und wenn ich einem fremden Brauch begegne, laufe ich vor diesem weg, mit dem Gefühl ein Fremdkörper und Außenseiter zu sein. 

Aber der Nikolaus und seine Engel haben mir zu gelächelt und kurzfristig habe ich mich gefühlt, wie als Kind, wenn man dem Nikolaus begegnet ist. Ich habe automatisch zurück gelächelt und in meinem Bauch war da dieses warme, wohlige Gefühl gesehen und wahrgenommen zu werden. Ich bin erwachsen, ich weiß, dass der Nikolaus ein Mensch im Kostüm ist (der dazu noch italienisch spricht). Und dennoch hat mich der Mythos des heiligen Nikolaus in Form dieses Mannes in seinem Kostüm in seinen Bann gezogen. Er hat mich kurzfristig meine Sorgen vergessen lassen und mich in dieser fremden Stadt willkommen geheißen.